ich habe einen meiner Lieblingbeiträge aus dem großen Forum aufgehübscht und mit neu eingescanten Bildern versehen. Wer weiß, vielleicht vermag er hier auf der lokalen Welle auch dem einen oder anderem von Euch zu gefallen
Anfang der 70er Jahre zog zuerst meine Schwester, Mitte 70 dann auch noch mein Bruder nach Berlin. Besuche bei ihnen waren absolute Highlights für mich, aus der Provinz in die (wenn auch reichlich verschlafene) Teilmetropole, das hatte schon was. Nur das dahin kommen war in der Voreisenbahnerära nicht so ganz einfach. Mit Elterns auf Berlin Besuch war es am einfachsten, doch der verlockende (verbotene???) Reiz der Großstadt flackerte dann aber nur sehr sehr spärlich. Profanes Sightseeing stand nun an, die Berliner Wahrzeichen wollten beachtet werden. Also schaute man sich die Goldelse, den hohlen Zahn oder die schwangere Auster an, am Brandenburger Tor ließ es sich trefflich ob der dargebotenen Staatsgewalt der DDR erschaudern. Obwohl aus heutiger Sicht zu dem Zeitpunkt alles relativ harmlos war wusste man doch ganz genau, wo der Feind stand. Ja ja, so einfach war auf beiden Seiten der Grenze bei Vielen das Weltbild während des kalten Krieges gestrickt, so etwas wirkt halt bis heute nach. Da ist es durchaus verständlich, dass man sich hüben wie drüben sein kleines Idyll schuf. West Berlin als Ganzes war für mich ein etwas größeres, trotzdem aber kleines Idyll, irgendwie einzigartig sein verstaubter Charme vor der Wende, Nierentisch und Anarchie auf engstem Raum vereint.
Berlin bot aber durchaus auch andere Reize, die im Schlepptau der Eltern nicht wirklich ausgekostet werden konnten. So war denn meine erste Alleinreise Richtung Berlin der absolute Hammer, ab Düsseldorf mit einer Super One Eleven der BOAC nach Tempelhof hin und ein paar Tage später mit einer 727 der BA zurück. Tempelhof sah da noch fast genauso aus, wie es einer der genialsten Filme aller Zeiten gezeigt hat. Billy Wilders Schlussszene aus Eins Zwei Drei mit James Cagney (Sitzen machen!), Lilo Pulver als Froillein Ingeborg, Hotte Buchholz und Karl Liefen (die Herren Kommunisten sind eingetroffen) spielte ja dort. Mit dem Flieger beim Einschweben zwischen einfach verglasten Küchenfenstern hindurch und nach der Landung zu Fuß übers Vorfeld, 1973 noch möglich.
Ohne Elterns in einer WG, zum ersten mal von Pink Floyds Dark Side of the Moon absolut begeistert, abends mit der Schwester ins Kino (Louis de Funes: Brust oder Keule??), am nächsten Morgen zum genialen Flohmarkt am Nollendorfer, hierhin, dahin, Kudamm gucken, S- Bahn fahren, das ganze vorhandene Netz rauf und runter (inklusive Eingeborenmecker wegen Unterstützung der Ulbricht Bahn), Wahnsinn das. Der nächste Höhepunkt dann am Abend, Insterburg und Co gaben ihr Programm Herzlichen Glückwunsch zur Eintrittskarte und Peter Ehlebracht hämmert auf Konservendosen sein Kittekat on the Rocks ins Publikum. Das alles war für mich Ruhri dermaßen faszinierend, da war die Eisenbahn fürs Erste vollkommen abgemeldet.
1975 hörte ich dann erstmalig von Schnellzugdampfloks in West Berlin. Tja, der Entdeckertrieb war geweckt, nur wo sollte der uninformierte Jungspund hinfahren? Die Wahl fiel auf den Bahnhof Zoologischen Garten, damals >>der Bahnhof<< in (West)Berlin. Nach dem Erwerb einer Bahnsteigkarte für 10 oder 20 Pfennig ging es zur Bahnsteigsperre, die Karte wurde gelocht und schon stand das Tor zur großen weiten Welt offen. Die Hamburger Interzonenzüge (richtig eigentlich Transitzüge, nur nannte die damals niemand aus dem Westen so) sollten mit Wittenberger Dampfern bespannt sein, ach Quatsch, 01er gibt’s doch gar nicht mehr
Bild 1)

Und wie es die noch gab. Während die Zitteraale aus Hannover, Frankfurt und München mit Diesel verkehrten, war die Linie von und nach Hamburg noch nicht umgestellt, ein Traum. Die 01 0532 verlässt hier den Bahnhof gen Hamburg. Alle Aufnahmen vom 20. bis 25.10.1975
Bild 2)

Auf die Idee, mal einen erhöhten Standpunkt zu wählen und sich aufs Dach des Bilka Parkhauses zu stellen wäre ich damals niemals gekommen.
Bild 3)

Der hohle Zahn als Bildhintergrund musste sein. Die 1891-95 gebaute und 1943 zerbombte Kaiser- Wilhelm- Gedächtnis- Kirche galt als >>das Symbol<< für den Aufbauwillen Berlins der Nachkriegszeit
Bild 4)

Kleiner Plausch vor der Abfahrt
Bild 5)

Abfahrt Richtung Friedrichstraße
Bild 6)

Warum ich mich nur am Bahnhof Zoo herumgetrieben habe und nicht mal von den umliegenden S- Bahnsteigen fotografiert habe, bleibt mir bis heute unverständlich
Bild 7)

Alles ganz nett das, auf Dauer aber recht eintönig. Als gerade noch 15 jähriger kam man ja ohne Erwachsenenbegleitung nicht nach Drüben, dort sollte ja dampflokmäßig noch der Bär toben. Irgendjemand erzählte mir dann, ich müsse mal zu Bornholmer Straße fahren, da könnte man von West Berliner Gebiet aus Dampfloks fotografieren. Gesagt, getan und schon stand ich auf der Bösebrücke, damals eine Grenzübergangsstelle für Westberliner und Bundesbürger. Kurz die Lage gescheckt und dann für mich selbst entschieden, dass Ost Berlin erst an dem weißen Strich mitten auf der Brücke beginnt. Ein paar Minuten später kam der erste Dampfer um die Ecke, die 52 5742 ist mit ihrem Güterzug Richtung Pankow Heinersdorf unterwegs. Wenn ich das richtig erkenne, gehören die beiden linken Gleise zur S-Bahn, der Dampfer ist wie gesagt auf den Gleisen Richtung Norden unterwegs, im Hintergrund erkennt man die Brücke des Innenrings und unmittelbar am äußersten Grenzzaun liegt das Güterzuggleis nach Schönholz/Tegel. Sagt selber, wie blauäugig muss man eigentlich sein, um dort zu fotografieren.
Bild 8)

Auch wenn ich im ersten Augenblick mit dieser Baureihe überhaupt nichts anfangen konnte wurde sie abgelichtet, die 03 0088, und dann begann das Drama. Plötzlich und unerwartet standen zwei Grün/Grau Uniformierte rechts neben mir und der Rückweg war abgeschnitten. In einem durchaus nicht unfreundlichen Tonfall kam dann die Frage nach Sinn und Zweck meiner Veranstaltung, als nächstes die – eigentlich ja vollkommen überflüssige- Frage nach einer Fotogenehmigung für’s Grenzgebiet und anschließend noch die Frage, was denn sonst noch so alles auf dem Film drauf wäre. Wie ich es in diesem Moment geschafft habe, etwas von Geburtstagbildern meiner Eltern zu erzählen und dabei so treuherzig zu schauen, ist mir bis heute ein Rätsel. Nach einem augenzwinkernden Du Du Du wurde ich dann in die Freiheit entlassen (hatte etwa die benutzte Praktika den Grenzer gnädig gestimmt???)
Bild 9)

Nach ein paar Schritten wieder im Westen angekommen wurde ich von einem älteren Passanten mit den Worten “Na Kleena, Filme wech?“ empfangen. Später haben sich andere Grenzorgane alle Mühe gegeben, diesen positiven Eindruck ins absolute Gegenteil zu verkehren. Solche Fotos konnte man ganz legal von West Berliner Seite machen, nicht wirklich prickelnd
Bild 10)

Kurz darauf stand schon die nächste folgenlose Grenzverletzung an. Der Bahnhof Friedrichstraße lag ja ein paar hundert Meter hinter der Sektorengrenze, war aber, da Grenzübergangstelle, von West Berlin aus ober- und unterirdisch per Zug erreichbar. Schon im umzäunten Grenzgebiet kam mir die 01 0532 mit einem Zug nach Hamburg entgegen
Bild 11)

Das war jetzt erst einmal genug Aufregung für einen Tag. Zur Nervenberuhigung wurde die nächste Bahnsteigkarte gelöst und auch mal bei Nichtdampfern draufgehalten. Ob diese Maschine noch ihre Ursprungsmotoren mit jeweils 900 PS besaß?
Bild 12)

Der Obermayer gibt an, dass die stärkeren 118.1 vom Hersteller ursprünglich als V 200 bezeichnet wurden. Wie aus dem Ei gepellt und glänzend wie eine Speckschwarte steht hier die 118 113 vor einen Interzonenzug, es waren halt die Stars der Schiene
Bild 13 und 14)

Beim S- Bahn fahren entstanden noch zwei Fotos, von denen ich nicht weiß, wo sie geknipst worden sind. Vielleicht kann jemand meine Notizen ergänzen. Antworten auf den Ursprungsbeitrag ergaben oben (mit Sicherheit) Wannsee und unten (mit Fragezeichen) Bahnhof Puzlitzstraße, heute Westhafen genannt

So, das war es für Heute und bitte kein Ost- West Geplänkel. Das war doch nur meine sentimentale Erinnerung an ein Stück heimeliger Vorwendegeschichte. Diese Bitte hielt ich damals für angebracht und nötig, da ist es z.Z. doch etwas entspannter hier im HiFo
Schönes Wochenende und Gruß aus Essen, Michael
PS.: Nachtrag zur Bornholmer Straße. Halbwegs aktuell schaut es dort wie folgt aus (185 521 ex CFL, ex HGK, nun Alpha Trains NV/SA, Antwerpen). Die S- Bahn wurde von links nach ganz rechts verlegt und hat nun wieder Anschluss an den Bahnhof Bornholmer Straße, der S- Bahn Innenring hat sich wieder geschlossen und ist komplett befahrbar. Der Fernverkehr kommt wie beim unteren Foto aus Richtung Gesundbrunnen, aktuell Nordkreuz genannt, die linken Gleise gehören nun zum "Fernverkehrs" Innenring, werden wegen der Bauarbeiten am Ostkreuz derzeit entweder gar nicht oder nur sehr spärlich benutzt

edit tauscht alle Bildlinks aus