Das Jahr 1990 bescherte uns Wessis einmal und nie wieder zwei Nationalfeiertage, am 17.Juni und am 3.Oktober. An beiden Tagen herrschte in Rheinhessen, wo ich zu dieser Zeit lebte und arbeitete, bahnmäßig an Sonn- und Feiertagen weitgehend Betriebsruhe, der Rheinland-Pfalz-Takt war noch nicht geboren.
Gerade hatten die Lokführermeldestelle Alzey die letzten ETA 150 verlassen, es wurde baureihenmäßig sehr eintönig, Darmstädter V 100 dominierten das Bild, in der Zuckerrübenzeit, die ja im Oktober anbrach, verirrten sich einzelne V 160 hier her, ebenso im Personenverkehr auf die Strecke Mainz-Alzey.
Mit dem VT 628 hatte man noch keine großen Erfahrungen, sie machten zumindest einmal einen zuverlässigen und robusten Eindruck und hatten gegenüber dem ETA den unwiderstehlichen Vorteil einer Türschließeinrichtung, was manchen älteren Zub lange Wege ersparte, die mit jedem Dienstjahr auch beschwerlicher wurden.
Über der ganzen Gegend hing das Stillegungs- und Abbaugespenst: Alzey-Worms, Alzey-Bingen, Alzey-Kirchheimbolanden, Armsheim-Wendelsheim, Bodenheim-Alzey, Gau-Odernheim-Dittelsheim/Heßloch, alles stand im Herbst 1990 zur Disposition, Südzucker AG und Landesregierung wollten die Umstellung des Zuckerrübentransportes auf die Straße, das wäre das Ende des Gv in Rheinhessen gewesen und so kam es dann ja auch.
Beherrschendes Thema unter den Eisenbahnern der Region war, daß nun noch mehr Geld aus dem Westen abgezogen und deshalb hier noch mehr gekürzt und abgebaut wird, viele, die damals um die 50 und älter waren, suchten die BSW-Berater auf um sich zu informieren, wie das mit der Zurruhesetzung wegen Dienstunfähigkeit aussieht.
Ein guter Freund, Dienstgruppenleiter bei der Mainzer Bahnpolizei berichtete, daß geplant sei, die Bahnpolizei aufzulösen und in den BGS zu integrieren. Auch hier setzten nun Ängste ein, weil jeder wußte, daß die Bahnpolizei nur eine polizeiliche Schmalspurausbildung beinhaltete, viele fürchteten, hier den Anschluß zu verlieren und am Ende wieder in den regulären Eisenbahndienst versetzt zu werden, möglicherweise wegen der vielen Stillegungen von Dienstposten und Strecken auch sehr weit weg von zuhause.
Alles in allem beschlichen uns Wessis also sehr ambivalente Gefühle.
Dem ganzen setzten dann die teils maßlosen Forderungen unserer sächsischen Verwandten die Krone auf, Höhepunkt war die Aussage meines Onkels (Jahrgang 1933), wenn er in drei Jahren in Rente gehe, dann möchte er die gleiche Rente haben, wie ein Westrentner, was wiederum meine Mutter (Jahrgang 1928), die von 1945 bis in die 1960er 20 harte Aufbaujahre hinter sich hatte, derart in Rage brachte, daß beide jahrelang nicht mehr miteinander sprachen.
Im Nachhall der deutschen Einheit von 1990 kam dann doch alles nicht so schlimm, wie befürchtet, zwar sind einige rheinhessische Strecken inzwischen wirklich verschwunden, dafür herrscht auf anderen wieder -was keiner gedacht hat- reger Betrieb, sogar eine Reaktivierung (Alzey-Kirchheimbolanden) galt es zu feiern.
Mein Kumpel von der Bahnpolizei konnte beim, BGS bleiben, es wurde ihm sogar noch der erleichterte Aufstieg in den gehobenen Dienst ermöglicht, im letzten Jahr ist er als PHK (A 11) in Pension gegangen, das hätte er 1990 keinesfalls erwartet, das mußte er beschämt bekennen (ich ehrlich gesagt aber auch nicht
).
Mutter und Onkel reden nun wieder miteinander, das Eis wurde gebrochen, als mein Onkel bei seinem ersten West-Besuch seit 1955 zugab: "Ihr müßt ja für euer Geld genauso hart arbeiten wie wir". Damals wurde so manche Schlaraffenland-Phantasie geradegerückt.
Mir freilich geht bei jedem "Nationalfeiertag" etwas anderes durch den Kopf, nämlich daß der Begriff "Deutschland", allen voran der geographische, in 1000 Jahren derart viele Wandlungen erlebt hat, daß man sich schwer tut, so etwas wie eine "Nation" zu definieren.
In Rumänien, Lettland, Dänemark, in Malmedy, im Elsaß und selbst in Polen leben Deutsche - wo hört Deutschland auf, wo beginnt es, welche Umrisse nehmen wir als Maßstab an, die von 1990, 1949, 1938, 1937, 1914, 1871, 1866, 1803...
Gerade der Historiker müßte sich mit einer eindeutigen Festlegung schwer tun.
Was aber auch nicht "geht" ist das "deutsche" Selbstbewußtsein, das sich folgendermaßen Bahn brach:
Schulhof 2015.
Der Pole und der Russe haben Streit, der Türke will schlichten.
Der Russe zum Polen:
"Was machst Du überhaupt in meine Land, Du Kardoffel?"
Der Pole:
"Das ist auch mein Land, Alder".
Der Türke zu beiden:
"Und wo seid ihr geboren?"
Schweigen.
Ich trete dazu und fordere sie auf, in
meinem Land friedlich miteinander umzugehen.
Da holt der Türke seinen Paß heraus und sagt ganz stolz:
"Sehen Sie, ich bin Deutscher!".
Ich sehe mir den Paß an und da steht tatsächlich: Geboren am 13.Mai 1994 in Bad Kreuznach...
Wünsche einen schönen "National"feiertag gehabt zu haben...